Wer bin ich?

Ich freue mich, heute die Geschichte von Eva* erzählen zu dürfen (Name geändert). Viel Spass beim lesen 🙂

Eva sass mit ihren Eltern beim Abendessen und stocherte lustlos in ihrem Essen herum. Ihre Mutter fragte sie besorgt, was mit ihr los sei, doch Eva zuckte nur mit den Schultern. Dann verschwand sie in ihrem Zimmer. Sie versuchte ihre Gefühle zu verdrängen, doch zu stark waren die Gedanken an den heutigen Tag. Ein Junge hatte sie gehänselt und imitierte dabei Affenlaute. Er machte fiese Bemerkungen zu ihren Haaren, die in seinen Augen wie verbrannte Stahlwolle aussehen würden. Eva wollte ihren Eltern nicht erzählen, was sie oft erleben musste. Ihre Mutter konnte nicht so gut mit Gefühlen umgehen und ignorierte oft die Tatsache, dass Eva anders war. Eva wurde als Baby adoptiert. Sie war ein Einzelkind und genoss die ganze Aufmerksamkeit ihrer Familie. Ihre Eltern erzählten ihr einmal als sie klein war, wie sie zu ihnen gekommen war. Eva kam in Benin zur Welt. Ihre Mutter ist bei der Geburt gestorben und der Vater war Unbekannt. Mit zwei Jahren wurde sie von ihren Eltern in die Schweiz geholt und wuchs in einem kleinen Dorf in der Nähe von Fribourg auf. Ihr Leben sollte so „Schweizerisch“ wie möglich verlaufen, doch das war gar nicht so einfach, wenn man täglich daran erinnert wurde, dass man einfach nicht so aussieht wie die anderen. Die *Stahlwollenfrisur“ hatte sie im Alter von 12 Jahren. Eva fühlte sich oft alleine und fremd, auch wenn ihre Eltern sich gut um sie gekümmert hatten und liebevoll waren. Doch ihr fehlte ein Vorbild, Gleichgesinnte und jemand, der ihr zeigen konnte, wie sie mit ihren Haaren umzugehen hatte. An Tagen wie diesen, wenn der fiese Tobi Spass daran fand, Eva zu quälen, wünschte sie sich, jemand anderes zu sein.

Ein paar Jahre später sass Eva im Zug. Sie beobachtete gedankenverloren die vorbeiziehende Landschaft, als sie plötzlich ein ziehen an ihren Haaren spürte. Vor ein paar Monaten hatte sie sich Dreadlocks machen lassen. Eine Freundin brachte sie auf diese Idee, da sie sich schon immer lange Haare gewünscht hatte und nach einem Weg suchte, mit ihrer Mähne klarzukommen. Durch die wachsenden Locken, veränderte sich auch die Sicht auf das Leben. Mit nun 16 Jahren wollte sie mehr über ihre afrikanischen Wurzeln erfahren. Nachdem sie ihre gesamte Kindheit alles was mit ihren Wurzeln zu tun haben könnte, gänzlich aus ihrem Leben verbannt hatte, öffnete sie sich mehr und mehr ihrer unbekannten Seite. Aber die Tür zu öffnen hiess nicht gleich, dass alles einfacher wurde. Manchmal wurde es auch schmerzhafter. Eva drehte sich um und wollte sehen, wer an ihren Haaren gezogen hatte. Da sass eine Frau, lachte sie an und meinte, sie hätte schon immer einmal solche Haare anfassen wollen. Eva’s Magengegend zog sich zusammen. Sie fühlte sich unwohl. Trotzdem sagte sie nichts zu der Frau und drehte einfach ihren Kopf wieder um.

Heute, zehn Jahre später blickt Eva in den Spiegel und fährt sich über die kurzen Haare. Sie hat sich vor ein paar Jahren den Kopf rasiert. Es fühlt sich an wie eine Befreiung. Als müsste sie sich nicht mehr erklären. Weder sich selbst gegenüber, noch vor den anderen. Die Entscheidung, sich die Haare komplett zu rasieren, kam ziemlich unerwartet. Sie hatte sich von ihrem Freund getrennt. Plötzlich war sie wieder alleine in ihrer Wohnung, starrte die Wand an und fragte sich : Was jetzt? Und wer bin ich? Sie wollte sich frei von Identität machen. Einfach ihre Gefühle spüren und jeden Tag nehmen, wie er ist. Die kurzen Haare helfen ihr, ausgeglichener zu sein. Im Moment kann sie sich nicht vorstellen, sie wieder wachsen zu lassen. Sie kann sich noch nicht mit Ihresgleichen identifizieren. Innerlich fühlt es sich noch fremd an, Flechtfrisuren zu tragen. Eva wünscht sich, eines Tages eine tiefe Verwurzelung zu spüren. Schritt für Schritt ist sie auf dem Weg, alle Facetten von sich zu umarmen und die Geschenke, die ihr Leben ihr bereithält mit offenen Armen zu empfangen.

Ich war begeistert davon, als Eva mir eine Sprachnachricht machte und mir von ihren Erfahrungen erzählte. Ihre Geschichte berührt mich und ich spürte beim zuhören, dass da eine mutige, selbstbewusste Frau spricht, die neugierig ihren Weg geht. Zum Schluss erwähnte sie noch, dass sie ihren Eltern unglaublich dankbar ist sie sich selbst als Glückspilz sieht. Sie plant, dieses Jahr mit ihrer Mutter nach Benin zu reisen und ihre leiblichen Verwandten zu besuchen. Diese Reise wird sie bestimmt wieder ein Stückchen näher zu sich selbst bringen und die Antwort auf die Frage : Wer bin ich? vielleicht ja sogar beantworten.

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